Winrich Scheffbuch
Christen
unter
Hammer und Sichel
R. BROCKHAUS VERLAG WUPPERTAL
ABCteam hat sich preiswerte Veröffentlichungen und die weite Verbrei-
tung des christlichen Buches zur Aufgabe gemacht.
Die Auswahl von ABCteam-Bänden und Buchclubausgaben wird von
einem Kreis bekannter christlicher Persönlichkeiten überwacht.
Neben den ABCteam-Bänden erscheint eine verbilligte Sonderausgabe
für Mitglieder des ABCteam-Buchclubs.
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den Verlagen:
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sorgen.
Die russischen Originaldokumente und Bilder dieses Buches wurden vom
Missionsbund LICHT IM OSTEN in Korntal bei Stuttgart zur Ver-
fügung gestellt. Die Übersetzungen besorgten Elisabeth Dyck, Irmgard
Stoldt, Bernd Dyck.
Bei den russischen Namen wurde die Umschrift der kyrillischen Buch-
staben so vorgenommen, daß dem Leser die russische Aussprache nahe-
gebracht wird.
1. Auflage August 1972
2. Auflage November 1972
3. Auflage März 1973
© 1972 by R. Brockhaus Verlag Wuppertal
Umschlaggrafik: Harald Wever, Wuppertal
Druck: Herrn. Weck Sohn, Solingen
ISBN 3-417-00404-7
Inhaltsverzeichnis
Seite
1. Evangelische Christen in Rußland 5
Die Anfänge 6
Die Bibelbewegung 8
Der Stundismus 8
Verfolgung von Anfang an 9
Bibelstunde im Fürstenschloß 10
Lenins taktischer Kampf gegen die Kirchen 11
Der totale Kampf gegen die Religion 12
Die Gründung des Bundes der Kirchen 13
Die Methode Chrustschows 14
Der Widerstand der Initiativniki 15
Gescheiterte Vermittlungsgespräche 16
Kein Streit vor Ungläubigen 17
Mehr Freiheit als taktisches Lockmittel 17
Neue Verfolgungen 18
2. Martyrium heute 20
Das vergessene Martyrium 20
Im Schatten des Kreuzes 22
Die Gemeinde in Brest ließ sich nicht auslöschen 24
Zehn Jahre im Leiden erprobte Gemeinden 27
Junge Gefangene 29
Sie erlebten den Tag der Freiheit nicht mehr 32
Gefangenschaft im Angesicht des Todes 33
Beschlagnahmte und zerstörte Häuser 35
Das Martyrium soll totgeschwiegen werden 38
3. Um Christi willen 42
Biblische Grundgedanken über das Leiden mit Christus 42
Verfolger zur Buße gerufen 46
Sie nahmen das Urteil an 49
Wirkungslose Schläge 53
Gewaltkur gegen Glauben an Gott 53
Fünfzehnmal Geldstrafe für einen Rentner 54
4. Entdeckungen des Leidens 57
Damit Kirche nicht verflache 57
Wir müssen von Jesus sprechen! 60
Mehr als die Welt bieten kann 66
Das Leben ohne Gott verliert jeden Sinn 67
Nach der Entlassung 70
5. Das Wort Gottes trägt sie 72
Die Verheißungen Jesu für die leidende Gemeinde 72
Briefe aus der Gefangenschaft 75
Betet, daß wir standhaft bleiben! 77
Nicht mehr als wir tragen können 77
Freude an der Bibel 78
Niemand versteht mich 79
Zehn Kinder ohne Vater 80
Sie tragen die Lasten gemeinsam 80
Seite
6. Bekehrung zum Leiden . . 82
Kirchenführer steckbrieflich gesucht 85
Je größer die Schwierigkeiten, desto fester der Glaube 89
In starker Bedrängnis 90
Des Glaubens Freiheit kann man nicht töten 91
Passionsgemeinschaft mit Jesus 92
7. Die Gelassenheit des Glaubens in der Verfolgung 94
Vergebliche Anstrengungen des Atheismus 94
Betet für die Verfolger! 97
„Gesellschaftsfeindliche Tätigkeit" 99
Gruß an alle Kirchen der Welt 100
Der Kampf um die Erziehung der Kinder 101
Eltern dürfen ihre Kinder nicht im Glauben unterweisen 103
8. Sie haben etwas zu sagen 106
Das Zeugnis der leidenden Gemeinde 106
Sorge um die Gemeinden in der Freiheit 111
Eltern organisieren Kindergottesdienste 113
Was geben wir an unsere Kinder weiter? 115
Im Straflager den Glauben gefunden 116
Viele geben christliche Schriften heraus 120
Aus der Sicht atheistischer Propaganda 121
Schikanen und Leiden in einem andern Blickwinkel 123
9. Das Zerbrechen der Glaubenszeugen 127
Der Irrweg des Heldischen 127
Der Weg der Maria Braun 130
„Mit Schaudern denke ich an die Vergangenheit" 131
Am Ende der eigenen Kraft 134
10. Das verborgene Martyrium 136
Das Ringen um Klarheit 136
Getrennt von der Gemeinschaft der Glaubenden 138
Unter Druck gesetzt 140
Tödliche Gefahr für die leidende Gemeinde 141
Eine Christin soll mundtot gemacht werden 142
Ein Vater bittet für seine Kinder 145
11. Gemeinschaft mit den Leidenden 149
Die Frucht der leidenden Gemeinde 149
„Betet für mich" 153
Brief aus der Sowjetunion an alle Christen der Welt 154
Aus Briefen 165
12. Anhang 167
Neue Listen inhaftierter Evangeliumschristen-Baptisten 167
56 Nachträge vom 15. September 1971 170
Fünfter Brief an U Thant 173
Das 39. Bittschreiben an die Regierung 174
Rußland muß das Evangelium hören können 176
Das Ausmaß der Verfolgung 185
21 Jahre lang vergebliches Bitten um staatliche Registrierung 195
Auch in der Verfolgung Ehrfurcht vor der Regierung 196
Zeittafel 200
1. Evangelische Christen in Rußland
Größer als meist angenommen ist die Zahl evangelischer Christen in
der Sowjetunion heute. Die Zahl der regelmäßigen Teilnehmer evangeli-
scher Gottesdienste schätzt man auf etwa fünf Millionen Menschen.
30 000 meist nebenamtliche Prediger stehen im Verkündigungsdienst.
Die wichtigste Gruppe evangelischer Kirchen und Gemeinschaften
verschiedener Konfession ist unter dem Namen Evangeliumschristen-
Baptisten bekanntgeworden. Die einst so starken lutherischen Gemein-
den der deutschen Siedler an der Wolga und in der Südukraine wurden
in den Verfolgungen Stalins zerstört. Und auch heute wissen wir für die
große Zahl deutscher Lutheraner nur von wenigen erlaubten Gemeinden.
Nur in den Sowjetrepubliken Lettland und Estland konnten sich luthe-
rische Gemeinden als selbständige Kircheneinheit wieder organisieren.
In Sibirien und Mittelasien können Hunderte von lutherischen Gemein-
schaften - abgesehen von 17 beschränkt staatlich geduldeten Gemein-
den - nur im Verborgenen existieren.
Beobachter bezeichnen die Evangeliumschristen-Baptisten als die „vi-
talste christliche Kirche in der Sowjetunion". Die Kirchengemeinschaft
dient als Sammelbecken verschiedener Strömungen von Evangeliums-
christen, die aus Erweckungen im letzten Jahrhundert hervorgegangen
sind, und dem seit 1884 bestehenden Bund der russischen Baptisten;
unter dem Druck der Regierung mußten sich auch Pfingstler, Adventi-
sten und Mennoniten dem Kirchenbund der Evangeliumschristen-Bap-
tisten anschließen.
Obwohl die Regierung der Sowjetunion Religionsfreiheit propagiert,
wird der Hälfte der evangelischen Gemeinden die staatliche Anerkennung
verweigert. Wenn die Behörden auch einen Teil dieser Gemeinden bis
auf weiteres einfach dulden, so soll doch der andere Teil planmäßig aus-
gelöscht werden.
Auch bei den staatlich zugelassenen Gemeinden - man nennt sie in
der Sowjetunion „registriert" — ist die Lage je nach den örtlichen Ge-
gebenheiten sehr verschieden. Allgemein läßt sich aber sagen, daß trotz
teilweise sehr einschränkenden staatlichen Auflagen die evangelischen
Gemeinden in der Sowjetunion wachsen. Vor allem nehmen auffallend
viele junge Menschen an den Versammlungen teil.
Der orthodoxe Schriftsteller Lewitin-Krassnow schrieb Anfang 1968
an Papst Paul VI. über die gegenwärtige kirchliche Erweckungsbewegung
in Rußland:
„Die heutige Jugend in Rußland ist eine unruhige Jugend. In ihr
brodelt es, und sie sucht leidenschaftlich nach neuen Wegen, wobei ein
regelrechter religiöser Aufbruch für eine erhebliche Anzahl von Jungen
und Mädchen charakteristisch ist. Es ist nicht übertrieben, wenn man
sagt, daß Kraft und Intensität des religiösen Aufbruchs dieser Jugend
der flammenden Begeisterung der Urchristen nicht nachstehen. Die
Fälle häufen sich, in denen hier in Moskau Söhne von Kommunisten,
ja selbst von alten Tschekisten, getauft werden. Wenn wir uns diese
Menschen ansehen, die von außen her zur Kirche stoßen und die noch
vor wenigen Jahren auch nicht die geringste Vorstellung von Religion
hatten, wenn wir diese Jungen und Mädchen betrachten, deren Hinwen-
dung zur Religion für gewöhnlich scharfe familiäre Zusammenstöße und
stürmischen Streit mit den Eltern auslöst (mitunter kommt es sogar zum
völligen Bruch), dann erinnert man sich unwillkürlich an die Worte des
Evangeliums aus Johannes 3,8 : Der Wind weht, wo er will, und du hörst
sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er
fährt. So ist jeder, der aus dem Geist geboren ist.
... Wir nannten Beispiele von Bekehrungen zum Christentum in
der orthodoxen Kirche. Doch einer noch größeren Zahl von Bekehrungen
können sich die Baptisten rühmen. Jedoch erfolgen alle Bekehrungen
aus den Reihen der nichtgläubigen Jugend ..."
Es gibt viele Hinweise, die das weite Ausmaß der gegenwärtigen Er-
weckungsbewegung in der Sowjetunion umreißen. Dieser Hunger nach
biblischer Evangeliumspredigt mag auch der Grund gewesen sein, daß
der Staat in den letzten zwölf fahren durch verstärkte Verfolgung und
Unterdrückung versucht hat, das Wachsen der evangelischen Gemeinden
wenigstens aufzuhalten. Deutlich zeigt sich, daß solche Versuche - trotz
unmenschlicher Praktiken — bis jetzt in den meisten Fällen vergeblich
waren.
Doch wie kam es überhaupt zur Bildung evangelischer Gemeinden in
Rußland?
Die Anfänge
Die evangelische Bewegung in Rußland ist jung. Ihre eigentliche Ge-
schichte umfaßt nur etwas mehr als hundert Jahre.
Einige Wurzeln reichen weiter zurück. Aber es waren nur Andeu-
tungen.
Seit dem Jahr 1820 wirkte in Petersburg Johannes Goßner als Pfarrer.
Er schrieb über die großen Möglichkeiten der biblischen Verkündigung
in Rußland: „Es ist ein fruchtbarer Boden, ein großes, weites Feld, eine
offene Tür, ja, ein großes Tor, das den Eingang in einen ganzen Welt-
teil beinahe öffnet." In einem Palais an der Morskaja, einer der Pracht-
straßen in der alten russischen Hauptstadt, hielt er Woche um Woche
Bibelstunden ab. Der ehemalige Tanzsaal des Palais, den er gemietet
hatte, war mit seinen über 1000 Plätzen oft überfüllt.
Aber schon nach fünf Jahren Seelsorgetätigkeit mußte Goßner das
russische Reich verlassen. Denn am Ende der Regierungszeit des Zaren
Alexander I., die für die christliche Mission recht verheißungsvoll be-
gonnen hatte, stand der Rückfall in totalitäre Regierungsmaßnahmen.
Unter der drückenden Alleinherrschaft seines Nachfolgers, Nikolaus L,
war Gewissensfreiheit - und damit verbunden die Freiheit für die evan-
gelische Lehre — undenkbar. Die allgegenwärtige Staatspolizei regierte
das Land.
Auch andere Missionsversuche sollten ohne äußerlich sichtbare Wir-
kungen bleiben. Schon August Hermann Francke hatte die Verbindung
mit Zar Peter dem Großen gesucht. Er hoffte weitsichtig auf eine bibli-
sche Reformation der russisch-orthodoxen Kirche. Es gelang ihm, einige
seiner Schüler als Erzieher oder Pastoren nach Rußland zu verpflichten.
Aber andere Türen waren versperrt.
Dann schickte Zinzendorf seine Missionsboten nach Osten. Sie sollten
nach der kühnen Missionsstrategie des Reichsgrafen bis nach China vor-
stoßen. Aber durch langjährige Inhaftierungen seiner Boten wurden die-
se Pläne vereitelt. Die sichtbaren Auswirkungen dieser Missionsbemü-
hungen waren gering. Doch keiner wird sagen können, daß all dies, was
unseren Augen entzogen ist, auch vor Gott vergeblich gewesen sei.
Schottische Missionare arbeiteten in Astrachan an der Wolgamün-
dung, am Nordufer des Kaspisees. Die Basler Mission hatte eine Sta-
tion mit dem Grafen Zaremba im Kaukasus. Aber sie fand nur Zugang
zu den nichtrussischen Völkern.
Mit einem Wechsel auf dem Zarenthron veränderte sich die Lage
völlig. Dem Zaren Alexander II. gelang es, das Regierungssystem zu
liberalisieren. So wurde 1861 der russische Bauer aus der Leibeigenschaft
befreit. Entschlossen wurde das Analphabetentum bekämpft. Daraus er-
wuchs ein großer geistiger Hunger.
Die Bibelbewegung
Schon am Anfang des 19. Jahrhunderts wurde unter Zar Alexander I.
eine russische Bibelgesellschaft in Petersburg gegründet. Die Leitung
übernahm Fürst Galizin. Neben einer guten russischen Übersetzung des
Neuen Testaments wurden auch in der tatarischen und der kalmücki-
schen Sprache Testamente gedruckt.
Die Bibelverbreitung erlebte dann so Jahre später durch den Einsatz
des Schotten Melville eine große Ausweitung. Bibelboten trugen nun die
von der Londoner Bibelgesellschaft gedruckte Vollbibel von Dorf zu Dorf.
Zwischen 1869 und 1892 wuchs die Verbreitung der Bibel auf das 30-
fache an. Jährlich konnten 70 000 Bibeln verkauft werden. Dabei war
wichtig, daß die orthodoxe Kirche die Bibelübersetzung voll anerkannte.
Diese Bibelbewegung wurde zum Fundament der folgenden evange-
lischen Erweckung.
Wenn auch die Bibelverbreitung mit Erlaubnis der orthodoxen Staats-
kirche geschah, so ging es doch nicht immer friedlich zu. Jakow Delja-
kowitsch Deljakow war eben nicht nur Bibelverkäufer, sondern gleich-
zeitig Prediger und brennender Missionar im Süden Rußlands. Um vor
der Polizei, die ihn oft genug verfolgte, unerkannt zu bleiben, tarnte
er sich als Hausierer. Während er dann seinen Kram auf den Märkten
verkaufte, wartete er nur auf einen günstigen Augenblick, um seine
Bibeln hervorzuholen. Zum Predigen ließ er sich dann in die Häuser
einladen.
Der Stundismus
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren viele Kolonisten aus Süd-
deutschland nach Rußland ausgewandert. Alexander I. hatte sie gerufen.
Doch der eigentliche Grund ihrer Auswanderung lag tiefer. Diese Chri-
sten litten unter der rationalistischen Theologie ihrer Kirchenleitungen,
wie sie sich in Lehre, Predigt und Gesangbuch ausdrückte. Aus der Hei-
mat brachten sie die „Stunde" mit. Diese Form der Versammlung mit
Bibelauslegung durch Gemeindeglieder ist für den Pietismus typisch.
Es waren dann vor allem missionarisch denkende Pfarrer, die ver-
hinderten, daß die Siedlergemeinden nur ihr völkisches Eigenleben führ-
ten. Unter den Pfarrern Bonekemper und Wüst kam es zu Erweckungen
in den deutschen Gemeinden, und von da ah waren die ukrainischen
Landarbeiter, die sich zur Erntezeit auf den deutschen Höfen um Geld
verdingten, nicht nur billige Arbeitskräfte. Sie kamen in die „Stunde"
8
mit, das Wort Gottes und der ungewohnte Eindruck eines Bauernzeug-
nisses taten ihre Wirkung, und so kamen viele Ukrainer zum Glauben.
Von großer Bedeutung war die Bekehrung des Müllermeisters Iwan
Rjaboschapka. In Odessa hatte er sich eine Bibel gekauft. Ein deutscher
Schmied merkte, wie Rjaboschapka nach der Wahrheit suchte, und führte
ihn zu der biblischen Wiedergeburt. Rjaboschapka wurde ein „Strannik",
ein Wanderprediger. In den Häusern, auf den Jahrmärkten rief er die
Menschen zusammen. Überall strömten sie zu ihm. Er las ihnen aus der
Bibel vor. Es entstanden feste Versammlungen. Aus dem Spottgerede der
ablehnenden Nachbarn heraus bildete sich der Name „Stundisten".
Verfolgung von Anfang an
Die orthodoxe Kirche, vor allem ihre Priester, waren zu wenig in der
Bibel gegründet, um diese Erweckungsbewegung positiv beurteilen zu
können. Aus Furcht vor der Aktivität der Gemeindeglieder sperrten sie
sich gegen die neue Gemeinschaftsform. Auch bei der Bilderverehrung
entstanden Konflikte, denn die Stundisten lehnten Bilder kompromißlos
ab.
Im Dorf merkte man sofort, wenn einer „gläubig" geworden war. Es
gehört zum Kennzeichen des russischen Christen, daß es zwischen Glau-
ben und Leben, Dogmatik und Ethik keine Kluft gibt. Wo ein Russe sich
bekehrte, hörte die Trunksucht auf. Bei der Arbeit und im Haus wurden
Fleiß und Sauberkeit sichtbar.
Bei den Nachbarn rief dieses anders gestaltete Leben Haß und Neid
hervor. Den Anzeigen folgten Polizeiaktionen. So eng war die orthodoxe
Kirche mit dem Staat verknüpft, daß Kritik an der Kirche gleich als
Staatsverrat gedeutet wurde.
Es kam zu brutalen Maßnahmen. Viele Familien wurden deportiert.
Die Führer der Erweckungsbewegung verurteilte man zu Zwangsarbeit
in sibirischen Bergwerken. Kinder wurden den Eltern weggenommen,
um in Klöstern „erzogen" zu werden. Der Dichter Graf Leo Tolstoi
kämpfte schließlich mit Erfolg gegen diese Grausamkeiten an.
Erst das Jahr 190$ sollte eine Wende bringen. Zar Nikolaus II. ent-
schloß sich zu einer Liberalisierung seiner Innenpolitik. In einem Tole-
ranzedikt erlaubte er den Stundisten, eigene Gemeinden zu gründen.
Ein Teil dieser Christen stand durch Kontakt mit Deutschland in der
baptistischen Tradition. Die anderen griffen die Bezeichnung „Evan-
geliumsbewegung" auf und nannten sich „Christen nach dem Evan-
gelium", später „Evangeliumschristen". Durch das Toleranzedikt wur-
den Tausende von Inhaftierten frei. Unzählige Verbannte durften wieder
in die Heimat zurück.
Dennoch gab es damals im zaristischen Rußland keine volle Freiheit
für die neuentstandenen Gemeinden. Die kaiserlichen Gouverneure
herrschten in ihren Provinzen mit uneingeschränkter Macht. Die Polizei-
aufsicht über die erweckten Christen blieb. Allen Widerständen zum
Trotz wuchs die Bewegung in den beiden Prägungen von Evangeliums-
christen und Baptisten.
Bibelstunde im Fürstenschloß
Neben der Ukraine, wo auch heute ein beträchtlicher Teil aller evan-
gelischen Christen der Sowjetunion lebt, wurde die Hauptstadt Peters-
burg, das heutige Leningrad, zu einem zweiten Zentrum der Erweckung.
War im Süden des russischen Reiches vor allem der einfache Mann von
der biblischen Missionspredigt getroffen worden, so hatte die Peters-
burger Erweckung aristokratische Züge.
1874. hielt sich der englische Lord Radstock mehrere Monate in der
Stadt an der Newa auf. Im Palais seiner Gastgeberin hielt er evangeli-
stische Bibelvorträge, die die Adelskreise der Stadt in Atem hielten.
Offenbar spürte der Adel damals selbst, wie morsch und brüchig sein
bisheriges Leben war, und so suchten viele nach der Wahrheit. Das
Zeugnis dieses englischen Lords war so einfach, fest und biblisch tief,
man hörte ihn gerne und in großer Aufgeschlossenheit. Viele der Ad-
ligen hörten zum ersten Mal in ihrem Leben, daß es im Glauben eine
Gewißheit des Heils gibt.
Lord Radstock gehörte den „Offenen Brüdern" an, die fast jede kirch-
liche Organisation ablehnten und um so eifriger im Missionsdienst und
in ihrer Hingabe an Christus waren.
Die Petersburger Erweckungsbewegung wurde weit über die Grenzen
der Stadt hinaus bekannt. Der Glaube wurde als sichtbares Zeugnis
offen gelebt. Die Standesunterschiede schwanden. Es wird berichtet, daß
Spottende sich über den Stallgeruch in den Salons der gläubigen Grafen
ausgelassen hätten. Denn es war stadtbekannt, daß dort in den herr-
schaftlichen Sälen täglich die Adligen neben den Kutschern und Stall-
knechten zum Gebet niederknieten.
Zu den Bibelgruppen gehörten einflußreiche Adlige: Oberst Pasch-
kow, Flügeladjutant des Zaren und zudem einer der reichsten Groß-
10
grundbesitzer seiner Zeit; Graf Korff, Hofmarschall des Zaren; Fürstin
Lieven, die Witwe des zaristischen Oberzeremonienmeisters; Verkehrs-
minister Graf Bobrinski.
Es blieb dem Oberprokureur des Allerheiligsten Synods, dem Lei-
tungsgremium der russisch-orthodoxen Kirche, vorbehalten, diese Er-
weckungsbewegung mit ganzer Härte zu unterdrücken. 1884 wurde eine
Konferenz der Stundisten Südrußlands mit den adligen Erweckungs-
kreisen Petersburgs, die Paschkow finanziert hatte, durch Polizeiterror
gesprengt. Die Bauernbrüder kamen in Haft. Kurz darauf wurden Pasch-
kow und Korff des Landes verwiesen. Andere verloren ihre Ämter. Sie
konnten sich alle der Forderung nicht beugen, ihre evangelistische Tätig-
keit einzustellen.
Lenins taktischer Kampf gegen die Kirchen
Für Lenin war „die Religion eine Art geistiger Fusel, in dem die
Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz und ihre Ansprüche auf eine
halbwegs menschenwürdige Existenz ersäufen".
Trotzdem berufen sich die „Evangeliumschristen-Baptisten" in der
jetzigen Verfolgung auf das Lenin-Dekret, und in geschichtlichen Rück-
blicken wird der Zeitabschnitt von 1918-1929, den Lenin eingeleitet
hatte, als „goldene Dekade", als Periode der Glaubens- und Gewissens-
freiheit bezeichnet.
Wie läßt sich das erklären?
Nur für die orthodoxe Staatskirche war die Trennung von der Macht
des Zaren in der Revolution von 1917 eine Katastrophe. Für die evan-
gelischen Gemeinden bedeutete sie zuerst einmal das Ende einer Ver-
folgung. Die führenden Prediger der Baptisten kehrten aus ihren sibi-
rischen Verbannungsorten wieder heim.
Der Kommunismus handelte in der Verfolgung seiner Ziele taktisch
klug - wenn auch auf Kosten logischer Konsequenz — und führte den
Kampf gegen die Religion zunächst gemäßigt. Lenin wußte, wie stark
die Bevölkerung in der Religion verwurzelt war. So traf er durch die
Konfiskation der Kirchengüter, den Wegfall der staatlichen Kirchenunter-
stützung und mit der Trennung von Kirche und Schule die orthodoxe
Kirche zwar hart, schonte aber die religiösen Gefühle, indem er den
ideologischen Kampf gegen die Religion selbst noch zurückstellte. Des-
halb waren auch die evangelischen Gemeinden von den Maßnahmen
Lenins zunächst nicht direkt betroffen.
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